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Xenos – Gast oder Fremder?

Eine Präsentation des gleichnamigen Seminarkurses am 6. Juli 2021


Schweigend betreten sechs schwarz gekleidete Schülerinnen und ein Schüler aus unterschiedlichen Richtungen die Bühne. Sie tragen weiße Kugeln mit Schleiern in Händen, setzen sie auf einer hellen Stoffbahn in der Mitte des Schauplatzes ab. Die weiße Fläche wandelt sich zum bewegten Meer, das am Ende von den Schauspielern hinausgetragen wird. Übrig bleiben: ein Haufen Trümmer, Abfall und Strandgut.
Diese gespenstische Szene zu Beginn soll die Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich am 6. Juli 2021 im Foyer des Gymnasiums Salvatorkolleg eingefunden haben, für das Thema des Abends öffnen: „Xenos – Gast oder Fremder?“ Dies ist zugleich der Name eines der diesjährigen Seminarkurse am Salvatorkolleg, dessen Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Rahmen dieses Abends die Ergebnisse ihrer Arbeit präsentieren. Ein Seminarkurs ist eine schulische Veranstaltung in Kursstufe 1, die freiwillig belegt werden kann und deren Ergebnisse ins reguläre Zeugnis aufgenommen werden.

Nach der Begrüßung durch die beiden Lehrerinnen des Seminarkurses, Christine Braig und Kerstin Gmünder, präsentierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre während des vergangenen Schuljahres geschaffenen Werke. Diese konnten, wie sich im Folgenden zeigen sollte, sowohl im Bereich der bildenden Kunst als auch literarisch, journalistisch oder musikalisch sein: Der Kreativität der Jugendlichen sind keine Grenzen gesetzt worden, was diese ihrerseits in eindrucksvoller Weise nutzten. Die meisten schufen mehr künstlerische Werke, als sie schließlich überhaupt zur Bewertung einbringen konnte.

Zu Beginn las Madlen Gairing ein Gedicht zur Musik von Christoph Dorn („You are in Egypt now“) vor. Der Künstler war selbst zu Besuch im Seminarkurs. Danach stellte sie ihr virtuos gemaltes Bild eines Mannes mit Träne vor und spielte dazu eine Tonaufnahme ab, auf welcher ein Gespräch Madlens mit Lehrerin Christine Braig zu eben diesem Gemälde zu hören ist. Ihre Hauptarbeit allerdings ist eine Serie von fünf lebensechten Kopfbüsten aus Ton, zu deren Entstehung sie einen Film gedreht hat. Auch dieser wurde dem Publikum gezeigt. Sämtliche Werke Madlens behandeln die traumatischen Folgen der Flucht.

Busranur Öztürk stellte ein klares, gegenständliches Thema in den Mittelpunkt ihres Arbeitens: das Tuch. Zu Beginn fragte sie das Publikum nach Assoziationen, danach zeigte sie eine Diashow, die neben Fotos von Busranur und ihren Freundinnen – mit und ohne Tüchern – auch das Hauptwerk der Schülerin zeigte: ein imposanter Gemäldezyklus, inspiriert von der Musik der isländischen Komponistin Hildur Gudnadóttir. Das Symbol des Tuches steht für Be- und Verkleidung, für Verfremdung und Identität, insbesondere aber: für Sichtbarkeit und Perspektive. Deshalb, so Busranur in ihrem Vortrag, sei es nicht selten und nicht zufällig auch Auslöser von Vorurteilen.

Im Gegensatz zu ihren vorangegangenen Mitschülerinnen schuf Elea Schneider ein musikalisches Werk – ein Lied. Dessen Thema stellte sie in einem einleitenden Vortrag vor: Was bedeutet „zu Hause sein“? Wie Madlen ließ auch sie sich von der Komposition „You are in Egypt now“ leiten, und wie bei ihr steht auch bei Elea das Thema Flucht und deren schreckliche Begleiterscheinungen im Mittelpunkt der Betrachtungen: die Vertreibung aus dem gewohnten Umfeld, die gefahrvolle Reise, das Bangen zwischen Hoffnung und Resignation nach der Ankunft – vor allem aber: der Verlust der Heimat.

Einen sehr authentischen Blick auf genau diesen Zusammenhang erlaubte die Arbeit der Schülerin Zahide Karakurd. Nach einer Einleitung, die aus Zeitungsmeldungen über gerettete und ertrunkene Flüchtlinge bestand, stellte auch sie ihr Hauptwerk vor: Ein Interview mit einem Geflüchteten. Am Beispiel eines 62-jährigen Chirurgen aus Damaskus konnte das Publikum einen konkreten Eindruck gewinnen, was es bedeutet, sein Zuhause – und dabei ein gutes und komfortables Leben – zu verlieren und um das Leben der eigenen Angehörigen bangen zu müssen.

Das Leid der Kinder und Jugendlichen unter den Geflüchteten stand im Mittelpunkt der Erarbeitungen von Lena Kastelberger. Zu Beginn ihrer Präsentation stellt sie ihr Hauptwerk vor: eine herausragend gestaltete Gemäldeserie, bestehend aus fotorealistisch anmutenden Bildern, die Porträts von Flüchtlingskindern zeigt. Nach einem Vortrag, in welchem sie die Lebensumstände dieser Kinder und Jugendlichen erläuterte, zeigte Lena einen Film über Menschenrechte und verlas parallel dazu den Text der UN-Menschenrechtscharta.

Bei Emma Kuhn verbinden sich Bildende Kunst und literarisches Schaffen. Zu Beginn ihres Vortrages spielte sie sie Vertonung einer Geschichte ab, die sie selbst verfasst hat. Sie handelt von einem Flüchtlingsmädchen und dessen Erlebnissen auf der strapazenvollen Reise, vor allem der Überquerung des Mittelmeeres – die gefährlichste Reiseroute der Welt. Ihr Hauptwerk besteht jedoch aus einer kleinen Skulptur, die zur Hälfte ein Gesicht, zur Hälfte einen scheinbar unbearbeiteten Stein darstellt. In einer ausführlichen Präsentation ließ sie das Publikum teilhaben am Entstehungsprozess dieses Werkes.

Leon Konzelmanns Vortrag bildete den Abschluss des abendlichen Programms. Bei ihm stand das selbst verfasste Gedicht „Xenos“ am Beginn seiner Präsentation, in dem Gedanken über Krieg, Flucht und das Fremdsein verarbeitet werden. Zusammen mit seinem Hauptwerk, einer großformatigen Collage, bildet Leons Erarbeitung die gedankliche Klammer zum Thema des Seminarkurses insgesamt. Und so kann seine Figur „Xenos“, nach dem Vorbild des „Modulators“ des Schweizer Architekten Le Corbusier, gewissermaßen als Sinnbild für die vorangegangenen Themen und Gedanken stehen:  Er ist der Fremde, der im Idealfall zum Gast wird.

Wie Lehrerin Christine Braig abschließend feststellte, wurde das Publikum nach knappen zwei Stunden mit einer Vielzahl von Eindrücken und Gedanken entlassen. Noch stärker als die herausragende Qualität der Schülerarbeiten wirkten bei mir denn auch tatsächlich die Denkanstöße nach, die ich durch all das Gesehene von den Schülerinnen und Schülern erhalten habe. Hier wäre einer: Ist es nötig, Wörter wie „Asyltourismus“, „Gutmensch“ oder „Obergrenze“ im eigenen Wortschatz zu haben? Die eindrucksvollen Präsentationen unserer jungen Leute legen nahe: nein.


Markus Benzinger

>> Artikel in der SZ vom 17. Juli 2021

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