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Aus der Zeit der Menschenverachtung

Live-Hörspiel „Das andere Leben“ am Salvatorkolleg, 27. Juni 2022

 

Ein wichtiges Thema verlangt nach einer großen Veranstaltung. Wenn es darum geht, die Notwendigkeit von Freiheit und Demokratie durch die Schilderung der Schrecken einer Diktatur hervorzuheben, kann dies gar nicht genug Menschen erreichen. Von daher ist es zu begrüßen, dass am Vormittag des 27. Juni 2022 mehr als 200 Schülerinnen und Schüler in der Sporthalle des Gymnasiums Salvatorkolleg versammelt waren und sich zugleich prominente Gäste die Ehre gaben, darunter der Bundestagsabgeordnete Josef Rief und der Landtagsabgeordnete Raimund Haser.

Zu sehen –oder besser: zu hören – gab es unter dem Titel „Das andere Leben“ die dramatische Lebensgeschichte des Solly Ganor (1928-2020), der als Jugendlicher Ghetto, Konzentrationslager und Todesmärsche überlebt hatte, in Gestalt eines Live-Hörspiels. Zur Instrumentalmusik von Ensemble Modern trug der renommierte Schauspieler und Grimme-Preisträger Thomas Darchinger vor, der vielen als Serienschauspieler – oft in Schurkenrollen – bekannt ist. Nach der Begrüßung durch Alexander Notz, der als Gemeinschaftskundelehrer und Stufenleiter der Mittelstufe diese Veranstaltung organisiert hatte, erhob sich Thomas Darchinger von seinem Platz mitten im Publikum und schritt durch die Reihen.

Dabei erzählte er den Schülerinnen und Schülern von Zukunftsängsten und den Verlockungen von Erlöserfiguren und deren Versprechungen. Mit Assoziationen und einfachen Beispielen leitete er so über zur NS-Diktatur, die eben genau dadurch entstehen konnte: Profit aus den Ängsten der Menschen schlagen, selbst definierte Scheinprobleme in die Welt setzen und anhand dieser einfache Lösungen für eigentlich viel komplexere Problemlagen anbieten. Die Warnung des Schauspielers war eindringlich, seine Alltagsbeispiele drastisch und gerade deshalb für alle verständlich.

Welche schrecklichen Folgen im Zuge einer Diktatur wie derjenigen des Nationalsozialismus entstehen können, stand dann in der folgenden Stunde im Mittelpunkt des Geschehens auf der Bühne. Darchinger trug lebendig und anschaulich, teils auch beängstigend plastisch aus den Erinnerungen von Solly Ganor vor: Nachdem er als 13-Jähriger das Ghetto in seiner litauischen Heimat überlebt hatte, wurde er „ins Reich“ verschleppt. Er berichtete von seinen schmerzhaften und leidvollen Erfahrungen, die mit dem Transport vom Baltikum in Richtung Süddeutschland begannen – im Viehwaggon. Zwar nimmt der Jugendliche das süddeutsche Alpenvorland zwischen Kaufering und Landberg am Lech als paradiesisch wahr, doch der Alltag im Außenlager X in Utting am Ammersee, das zum Konzentrationslager Dachau gehört, erweist sich als fürchterlich.

Das kaum Beschreibbare fasst Ganor in Worte, die durch die Vortragskunst des Schauspielers Thomas Darchinger lebendig werden: Ein Appell, der sechs Stunden dauert, damit die Häftlinge lernen, wie man beim Antreten die Mütze korrekt abnimmt. Ein Lehrer aus Litauen, der hingerichtet wird, weil er im Lager ein Buch besitzt, ein Menschenleben, das für 20 Zigaretten Bestechungsgut gerettet wird, ein Häftling , der sich einen Teller Suppe ergattert hat und deswegen vom Wachtposten erschossen wird – Willkür, Barbarei und Menschenverachtung allerorten.

Als wahren Vorhof zur Hölle schildern Ganor und Darchinger eine Großbaustelle der Organisation Todt in Landsberg am Lech. Bei Betonierungsarbeiten kommen reihenweise Menschen um, fallen in tiefen frischen Beton auf Nimmerwiedersehen, stürzen von hohen Baugerüsten. Die abscheuliche Idee von der „Vernichtung durch Arbeit“ wird hier greifbar.

Dass Solly Ganor all dies überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Besonders intensiv rezitiert Darchinger die Episode, wie der nun 16-Jährige das nahende Kriegsende im Lager Dachau erlebt, wie er mit seinen verbliebenen Freunden und Verwandten auf einen der berüchtigten Todesmärsche durch den Süden Deutschlands geschickt wird, mehr tot als lebendig den amerikanischen Befreiern in die Hände fällt – und gegen alle Wahrscheinlichkeit überlebt.

Nach seiner Lesung, die das junge Publikum sehr beeindruckt hatte, schickte Thomas Darchinger noch einmal eine Ermahnung an alle Anwesenden: Freiheit und Demokratie sind kostbare Güter, ja wirkliche Geschenke. Aber um sie am Leben zu erhalten, bedarf es freier, engagierter und kritischer Menschen, die sich gegen die Verlockungen des Populismus immunisieren.

Zum Ende dieses Artikels sei nochmals all jenen gedankt, die zum Gelingen dieser Veranstaltung beigetragen haben, allen voran Alexander Notz für die gesamte Organisation.

 Markus Benzinger

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