Orakel per Sprachnachricht – Zur "König Ödipus-Rhapsodie" der Klasse 7a
„Wir ersparen Euch die Details!“ Dieser Satz bildete, gewissermaßen als Refrain, die innere Verbindung in einer vielfältigen, buntscheckigen, überraschenden, teils auch skurrilen Darbietung, die am vergangenen Donnerstag, den 11. Juli, abends im Foyer des Salvatorkollegs stattgefunden hat: der "König Ödipus-Rhapsodie" der Klasse 7a.
Eine Rhapsodie ist nach Ausweis des Metzler Literatur Lexikons „eine Dichtung oder ein Musikwerk, deren thematische Vielfalt, assoziative Reihungsform und improvisative Darstellungsweise“ nach dem Vorbild antiker Sänger, genannt Rhapsoden, gestaltet ist. Und genau eine solche haben die Schülerinnen und Schüler der Klasse 7a unter der Leitung von Deutschlehrer Thomas Epting erarbeitet. Der im Rahmen des regulären Deutschunterrichts zu gestaltende Stoff war hierbei aber nicht irgendeiner, sondern einer der großen Klassiker der altgriechischen Dichtung – und somit der Weltliteratur schlechthin: der Labdakiden-Mythos.
In Abwandlung des Schüler-Mottos: „Ich erspare Ihnen die Details!“ Aber vielleicht so viel: Aus dem Labdakiden-Mythos entstanden zwei der wichtigsten Tragödien der Literaturgeschichte, diejenige von König Ödipus und die über seine Tochter Antigone. Beide waren bis 2004 (wahlweise) im Deutsch-Lehrplan der Klasse 11 verzeichnet, wurden aber im Zuge der Umstellung auf G8 ersatz- und verantwortungslos gestrichen.
Doch zur Sache: Die Nachkommenschaft des thebanischen Herrschers Labdakos ist von den Göttern verflucht. Sein Enkel Ödipus wird nach seiner Geburt ausgesetzt, aber gerettet. Er tötet unwissentlich seinen Vater und heiratet seine Mutter, mit welcher er vier Kinder zeugt. Als ihm sein Tun bewusst wird, sticht er sich die Augen aus. Seine Söhne stehen sich auf dem Schlachtfeld als Feinde gegenüber und töten sich gegenseitig. Deren Schwester Antigone setzt sich über das Gesetz ihres Schwiegervaters, des Königs Kreon, hinweg und bestattet auch ihren abtrünnig gewesenen Bruder gemäß göttlichem Gebot. Sie muss am Ende sterben, ebenso ihr verzweifelter Bräutigam Haimon.
Diesen weder einfachen noch leicht verdaulichen Stoff nun haben die Schülerinnen und Schüler auf ihre Weise be- und verarbeitet. Zehn Gruppen, bestehend aus je zwei bis vier Siebtklässlern, haben sich der Ödipus-Erzählung angenommen und ein Kapitel daraus gestaltet. Aus dieser Collagenstruktur ging die Rhapsodie hervor, die – wie Thomas Epting in seinen einleitenden Worten betonte – ganz bewusst ohne Kulissen oder Verkleidungen auskomme. Verbindendes Element der unterschiedlichen Vortragsstücke waren die Themen Medien und Medialität.
Und so erklangen die Worte des Rhapsoden nun aus den Geräten und in den Formaten des 21. Jahrhunderts: Die Pythia ließ den Orakelspruch per What’s app-Sprachnachricht verlauten. Einige Teile des Mythos wurden in Form seriöser Nachrichten, andere durch Infotainment-News („Asi-TV“) oder gar Werbespots mitgeteilt. Die verwendeten sprachlichen Register reichten dabei von gepflegtem Bildungsdeutsch über krasse Jugendsprache bis zu broidem Schwäbisch. Für Antigones unglücklichen Verlobten Haimon stimmten Schülerinnen einen stadionreifen Fangesang an. Um einem nicht namentlich genannten weiteren Deutschlehrer eine besondere Freude zu machen, wurde das Publikum auch bei weiteren Vortragsteilen einbezogen: So wurden etwa Quizfragen gestellt, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu überprüfen.
Was soll die Aufführung tragischer Inhalte erreichen? Ich erspare Ihnen die Details: Die griechische Poetik nennt hier ein klares Ziel, nämlich den Zuschauer als Menschen zu verbessern, indem dieser Furcht und Mitleid empfindet. Auf einen oberflächlichen Blick scheint die Ödipus-Erzählung durch die modernen, teils respektlosen Darbietungsformen der Jugendlichen ihren Schrecken zu verlieren. Bei genauerer Betrachtung ist er aber noch immer da, sogar gesteigert, denn was in der Medienwelt des 21. Jahrhunderts stattdessen fehlt, ist das Mitleid: Die Sensationslust der Medien einerseits und die Oberflächlichkeit, der Zynismus von Werbung und sozialen Netzwerken andererseits, lassen – dies zeigte die Rhapsodie der Klasse 7a sehr deutlich – den Schrecken übergroß werden, da er nicht mehr von einer sinnstiftenden Moral aufgefangen und gemildert wird.
Der Klasse und ihrem Lehrer Thomas Epting ist zu dieser großartigen Rhapsodie zu gratulieren. Zum einen dafür, dass sie die griechische Tragödie an dieser Schule wieder ins Bewusstsein gerufen haben, zum anderen für einen schonungs- aber nicht spaßlosen Kommentar zur Medienlandschaft der Jetztzeit.
Ganz zum Schluss ein allen gedankt, die zum Gelingen dieser Aufführung beigetragen haben: den Schülerinnen und Schülern, den Eltern, den Lehrern und allen anderen Beteiligten.
Markus Benzinger
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